Harvey, Michael by Kein Opfer ist vergessen
Autor:Kein Opfer ist vergessen
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00
DREIUNDZWANZIG
Im Lauf der Jahre hatte er sein Vorgehen zu einer regelrechten Kunstform ausgebaut. Er machte lange Spaziergänge, schlenderte durch die eine oder andere Wohngegend, studierte Verhaltensmuster und hielt nach potenziellen Opfern Ausschau. Für gewöhnlich bevorzugte er Jugendliche. Außenseiter. Jungs, die einen Freund brauchen konnten. Aber heute ging es um etwas anderes. Heute hatte er sich etwas anderes vorgenommen.
Im Morgenlicht sah man dem grün-weißen Haus die Jahre an, die es auf dem Buckel hatte. Bei seiner dritten Runde um den Block entdeckte er den Jungen, der aus der Tür kam und in einen Audi mit laufendem Motor stieg. Der Audi fuhr los und verschwand über die Straße. Ebenso fielen ihm drei Männer in einer schwarzen Limousine an der Ecke auf. Als der Audi weg war, warteten sie noch eine Viertelstunde, ehe sie aus ihrem Wagen stiegen und losmarschierten. Sie traten die Eingangstür ein, hielten sich für knapp eine Stunde im Innern des Hauses auf. Danach kamen sie wieder raus, stiegen in ihre Limousine und machten sich aus dem Staub. Wenig später näherte er sich dem Eingang und drückte gegen die Tür, die knarrend aufschwang. Seine Nasenflügel zuckten. Er roch Angst, abgestandene Angst, die durch das Haus zog. Er strich durch die Zimmer im Erdgeschoss. Hier und da blieb er stehen und fasste etwas an. Die drei Typen hatten die Wohnung durchsucht, ohne ihre Spuren zu verwischen. Er durchquerte den Flur. Die Tür zum Keller war aufgebrochen worden. Er nahm die Treppe nach unten. Da stand der lange schwere Tisch und schlief unter einer Staubschicht. Am liebsten hätte er die Handschuhe abgestreift und die Oberfläche berührt, aber das ging leider nicht. In einer Ecke ließ er sich auf alle viere nieder und tastete auf dem Fußboden nach einer Fuge. Dann zog er das Stemmeisen unter seiner Jacke hervor und machte sich ans Werk. Nach drei Minuten hatte er ein kleines Viereck aus dem Zementboden gelöst und steckte die Hand in das freigelegte, dunkle Loch. Es war leer. Der Mann mit den gelben Augen fluchte. Als er hörte, dass draußen ein Wagen quietschend bremste, setzte er das Zementstück in die Lücke zurück und fegte mit der Hand Dreck und Staub über die Fugen. Kurz darauf schlüpfte er in den Garten hinter dem Haus und kehrte in einem Bogen zur Straße zurück.
Der Junge war zurückgekommen und aus dem Audi gestiegen. Am Steuer saß ein Mädchen – dasselbe, das mit am See gewesen war. Der Junge hielt sich wie ein Mann, war aber keiner. Noch nicht. Vielleicht würde auch nie einer aus ihm werden. Das Mädchen fuhr los. Er merkte sich das Kennzeichen und sah zu, wie der Junge zur Eingangstür lief. Als dieser sich umdrehte, war er bereits verschwunden.
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